Goldene Regeln
für Übersetzer – zusammengestellt aus eigener Erfahrung
1. Übersetzen in die Muttersprache
Übersetzen Sie in Ihre Muttersprache! Sie können eine Fremdsprache noch so gut beherrschen, wenn Sie nicht mit ihr aufgewachsen sind, sie quasi mit der Muttermilch eingesogen haben, werden Sie niemals bis in alle stilistischen Feinheiten der Fremdsprache vordringen und folglich auch keine Texte von Spitzenqualität abliefern können. Ihre persönliche Sprachbegabung, Ihr Einfühlungsvermögen und Ihre Stilsicherheit vorausgesetzt, können Sie jedoch hochwertige Übersetzungen in die Muttersprache anfertigen. Allerdings sollten Sie nicht nur die Fremdsprache und selbstverständlich die Muttersprache hervorragend beherrschen, sondern sich auch in beiden Kulturkreisen überdurchschnittlich gut auskennen und einfühlen können.
2. Das nötige Fachwissen und Textverständnis
Übersetzen Sie nur solche Texte, zu deren Inhalten Sie das nötige Wissen mitbringen! Die Qualität eines Übersetzers erkennt man u. a. daran, dass er seine Fähigkeiten realistisch einschätzt! Wer einen Text nicht restlos verstehen und logisch durchdringen kann, wird ihn auch nicht adäquat übersetzen können.
3. So wörtlich wie möglich, so frei wie nötig!
Eine Übersetzung kann den Urtext niemals eins zu eins wiedergeben, jede Übersetzung ist daher notwendigerweise und im gewissen Sinn eine „Verfälschung“. Wir können uns dem anderen Kulturkreis, aus dem der Urtext stammt, durch die Übersetzung immer nur annähern. Kleben Sie daher nicht in falsch verstandener Nibelungentreue am Urtext, indem Sie die Satzstellung und die Verbzeiten beibehalten oder die Bilder und Allegorien des fremdsprachigen Textes um jeden Preis übernehmen. Das Deutsche hat mit einer infiniten Verbform oder einem abgetrennten Verbteil am Satzende eine von den allermeisten anderen Sprachen abweichende Satzstellung, in die sich auch alle anderen Wortkategorien streng einfügen. Im Deutschen gibt es ein bestimmtes festgelegtes Zeitregister für besprechende und erzählende Texte. Das historische Präsens wird in erzählenden Texten als Stilmittel zur Erzeugung von Spannung nur selten eingesetzt. Achten Sie daher auf die Textsorte, die Sie übersetzen. Prüfen Sie alle Bilder und Allegorien auf ihre korrekte Entsprechung im Deutschen.
Versuchen Sie andererseits nicht, in falsch verstandener „künstlerischer Freiheit“ Autor eines neuen Textes werden zu wollen, indem Sie den Text bestenfalls vage „nacherzählen“, statt ihn „wiederzugeben“. Ihre Leser haben nämlich ein Recht darauf, den Urtext so authentisch wie möglich überliefert zu bekommen – mit allen Konnotationen und Stimmungen, die hintergründig vorhanden sind. Verstehen Sie sich viel eher als Vermittler zwischen zwei Kulturkreisen. Fühlen Sie sich in die Leser Ihrer Übersetzung ein! Setzen Sie sich daher nie über Textgattung, Textniveau und Erzählebene hinweg. Lassen Sie sich deshalb auch nicht dazu verleiten, immer wieder Ihnen lieb gewordene Ausdrücke und Wörter zu verwenden, woran man eventuell Ihren persönlichen Stil erkennt, aber niemals den des Urtextes. Verändern Sie in Ihrer Übersetzung niemals den Inhalt des Urtextes, bringen Sie dort keine eigene Meinung oder Bewertung unter. Versuchen Sie dagegen die Stimmung des Textes so gut wie möglich wiederzugeben.
Der goldene Mittelweg besteht in einem immer neu ausgewogenen Verhältnis zwischen wörtlicher und freier Übersetzung!
4. Die Kunst des Übersetzens
Die Übersetzung ist eine Kunst! Sie setzt Sprachbegabung, Sprachgefühl und Stilsicherheit voraus.
Die Kunst besteht darin, den Urtext so authentisch wie möglich wiederzugeben. Diese Wiedergabe ist dann wirklich gut, wenn man als Leser gar nicht spürt, dass es sich bei Ihrem Text um eine Übersetzung handelt, sich aber andererseits auch nicht in Inhalt und Stimmungsbild getäuscht fühlt – sollte man selber den fremdsprachigen Urtext auch lesen und verstehen können. Eine professionelle Übersetzung liest sich flüssig wie ein muttersprachiger Text und gibt trotzdem den fremdsprachigen Text so getreu wie möglich wieder.